Montag, 23. Juni 2008

Dokumentiert: An der Alma mater lebt der Nonsens












(Bildquelle: Impuls / FSR Magain Physik Ausgabe 84, 1996)

Die Stimmung im Hörsaal des Pädagogischen Instituts zu Hamburg war äußerst kämpferisch an jenem Apriltag des Jahres 1975. Schichten von Flugblättern bedeckten den Fußboden, in halbleeren Kaffeebechern schwammen ertränkte Kippen, und von den Wänden hingen rote Fahnen mit markigen Parolen: "Hoch die internationale Solidarität."

Erregt springt plötzlich ein Student ans Rednerpult und greift sich das klobige Sennheiser-Mikrofon: "Wir haben soeben erfahren, daß die Roten Khmer in Pnom Penh einmarschiert sind", verkündet er mit atemloser Stimme den neuesten Sieg im Völkerkampf, "die Amerikaner haben Kambodscha verlassen."
Da verlieren sich Hunderte von Studenten endgültig im revolutionären Taumel: heute Pnom Penh, morgen Saigon - und übermorgen? Hamburg!

Es sollte noch mehr als 20 Jahre dauern, bis Anfang 1996 die "Hochschulgruppe Rote Khmer" ins Studentenparlament der Hamburger Universität einzog. Und es war dann auch ganz anders, als es die Streiter jener auslaufenden, wilden Studentenzeit gehofft hatten, die damals noch nichts vom massenmörderischen Wüten des kambodschanischen Rebellenführers Pol Pot wissen konnten.

Die hanseatischen Roten Khmer der neunziger Jahre sind schlichte Witzbolde, die in ihrem Wahlprogramm Deutschland als gravierendes "Jodmangelgebiet" einstufen, "Steinzeitpunkfestivals" organisieren, aus Büchern Barrikaden bauen wollen und sich wünschen, daß die an der Hamburger Uni vorbeiführende Straße in "Pol-Pot-Allee umbenannt und komplett vermint" wird.

Der zynische Blödsinn reichte immerhin für zwei Sitze im Studentenparlament - und als Beleg dafür, wie viele ideologische Lichtsemester zwischen den Apo-Vätern und deren Kindern liegen.

Ob in Bremen die Liste "Lars Vegas" für Schlager der siebziger Jahre wirbt, oder in München die "Anarchistische Pogo-Partei" 3000 Mark BAföG für alle fordert - derzeit kann an deutschen Universitäten und Hochschulen keine Idee zu schwachen Sinnes sein, als daß sie nicht noch Sympathisanten fände.

Die Begeisterung für ernsthaften politischen oder auch idealistischen Disput ist genauso verkümmert wie die Bereitschaft, in studentischen Gremien und Selbstverwaltungsorganen mitzuarbeiten oder sich überhaupt dafür zu interessieren.

Mancherorts bricht schon Jubel aus, wenn die Beteiligung an der Wahl des Studentenparlaments wenigstens zweistellig ist. Ganze 7,2 Prozent nahmen an der FU Berlin im vergangenen Wintersemester teil - zu Rudi Dutschkes Zeiten vor 30 Jahren waren es mal 66 Prozent gewesen. An der Berliner Humboldt-Universität gaben sogar nur 5,9 Prozent ihre Stimme ab, bei Nachwahlen in diesem Sommer sank der Anteil auf den Negativrekord von 3,2 Prozent. Kein Wunder, daß in Heidelberg schon mal nur 5000 Wahlzettel für mehr als 30000 Studierende gedruckt werden.

Dabei gab es schon lange nicht mehr so viele gute Gründe für die bundesweit rund 1,7 Millionen Studenten, sich lautstark einzumischen: Immer weniger bekommen BAföG, immer mehr müssen auch während der Vorlesungszeit jobben, Semestergebühren und Strafgelder für Langzeitstudenten drohen, und an der Ausstattung der Hochschulen wird ständig geknapst.

Doch alles wird nahezu klaglos hingenommen. "Die meisten denken, man kann ja eh nichts ändern", hat Studentenvertreter Volker Lebens von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität festgestellt, "wir müssen einfach froh sein, daß überhaupt noch jemand etwas macht."

Immerhin: "Wenn es Wein gibt, kommen die Leute." Und sonst? "Jeder wurstelt sich eben durch."

Das war allerdings schon immer so. Daß die meisten Studenten früher politisch hochaktiv waren, ist eine Mär. Immer war es eine Minderheit, die mehr oder weniger laut für alle zu sprechen vorgab, die mehr oder weniger gut Kommilitonen zeitweise zu mobilisieren verstand und darüber entschied, ob Revolte oder Lethargie den Ruf der Studenten prägte.

Die Meinungsführerschaft haben heute allerdings ganz andere als noch vor 10 oder 20 Jahren. "Die politische Energie hat sich zu den Ökonomen und Juristen hin verschoben", sagt der Sozialwissenschaftler Tino Bargel, einer der Leiter der Arbeitsgruppe Hochschulforschung an der Universität Konstanz.

Seit 1983 befragt die Konstanzer Arbeitsgruppe im Auftrag des Bundesbildungsministeriums alle paar Semester etliche tausend Studenten anonym nach ihren politischen und privaten Einstellungen, Wünschen und Zielen. Der Trend ist, laut Bargel, eindeutig: "Die Studierenden sind insgesamt konventioneller und pragmatischer geworden, weniger kritisch und reformorientiert eingestellt."

Nach dem Absturz linker und alternativer Ideale in den achtziger Jahren fühlten sich die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler an den Universitäten durch die gesellschaftliche und politische Entwicklung bestätigt. Marktorientierung, Konkurrenz und technischer Fortschritt wurden die neuen Stichwörter, individuelles Karrierestreben geriet zur akzeptierten Tugend.

Meinten 1983 noch 49 Prozent der befragten Studenten, Konkurrenz zerstöre die Solidarität unter den Menschen, so fürchten dies heute nur noch 29 Prozent. Und sagten damals 41 Prozent, man könne auch mit geringerem technischen Fortschritt ganz gut oder vielleicht sogar besser leben, so denken derzeit nur noch 26 Prozent der Studenten so. Dazu paßt, daß der Traum von alternativen Lebensentwürfen und Perspektiven kaum mehr eine Rolle spielt, sondern fast schon antiquiert klingt.

Ganz "anders leben" als von den Alten vorgemacht, "autonome Lebens- und Arbeitskollektive" gründen - das wollen heute nur noch 9 Prozent. Anfang der achtziger Jahre war es immerhin jeder vierte Student. Ebenso viele wollten "Verzicht auf materiellen Wohlstand" üben. Das können sich heute nur noch 13 Prozent vorstellen.

Mit dem Maß ihrer individuellen Freiheit sind die meisten heute zufrieden. Während 1983 noch 57 Prozent der befragten Studenten beklagten, zu wenig individuelle Freiheit zu haben, sind es jetzt nur noch 27 Prozent.

Die Werte der früheren Meinungsführer, vornehmlich der Sozial- und Geisteswissenschaftler, haben an Bedeutung verloren. "Die hängen jetzt ratlos in der Zirkuskuppel", sagt Studentenforscher Bargel, "sie sind Zuschauer geworden, durchaus noch kritisch in der Grundhaltung, aber mit Distanz zur politischen Aktion und mit geringerem Engagement."

Darunter leide auch die Innovationskraft außerparlamentarischer Aktivitäten erheblich, meint Peter Grottian, Politologe an der Freien Universität Berlin. Früher hätten sich die Studenten noch in Umwelt-, Frauen- oder Ausländerprojekte eingemischt, jetzt aber zögen sie sich auch von dort massiv zurück: "Niemand bürstet mehr quer, da kommt keine neue Idee, kein Anschub mehr her."

Die Lust auf politische und soziale Utopien ist den Studenten jedenfalls weitgehend vergangen. "Mehr und mehr macht sich eine eigentümliche Gleichgültigkeit breit", sagt Tino Bargel, "eine Mischung aus Ernüchterung und Resignation ist eingetreten."

Das Interesse an den Selbstverwaltungsgremien der Studenten sinkt kontinuierlich. Allenfalls die Fachschaften werden als Ort sozialer Kommunikation im anonymen Hochschulbetrieb von manchen noch geschätzt.

Politische Basis- und Aktionsgruppen gibt es kaum mehr, und auch der Versuch, mit dem "Freien Zusammenschluß von StudentInnenschaften" (fzs) wieder eine bundesweite, schlagkräftige Organisation zu schaffen, ist ziemlich erfolglos.

Schlechte Zeiten auch für die parteipolitisch geprägten Studentengruppierungen: "Niemand will mehr Verantwortung übernehmen", klagt Holger Thuß, stellvertretender Vorsitzender des Ringes Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), mit rund 7000 Mitgliedern größter politischer Studentenverband: "Alle wollen möglichst rasch fertig werden."

Dabei sei es doch gar nicht wahr, daß die Arbeitgeber bevorzugt Leute einstellten, die ihre akademische Ausbildung besonders zügig und ohne Schlenker absolvierten, meint Geschichts-Student Thuß, 27. Doch der Arbeitsmarkt ist unsicher, und mehr denn je müssen Studenten auch während der Vorlesungszeit nebenbei jobben.

"Die Leute stehen finanziell wahnsinnig unter Druck", bestätigt Martin Knoop, Bundesgeschäftsführer der SPD-nahen Juso-Hochschulgruppen. "Da bleibt einfach weniger Zeit, sich auch politisch zu betätigen." 60 Juso-Hochschulgruppen mit insgesamt 1200 Studenten gibt es laut Knoop derzeit.

Der SPD-Nachwuchs ist in der Defensive: Die Anbindung an die staubige Mutterpartei wirkt nicht besonders attraktiv, und in der Uni klauen die Grünen auch noch die Wähler: "Die suchen sich nur immer spezielle Themen raus und denken nicht gesamtgesellschaftlich", mault Knoop. Aber das kommt derzeit einfach besser an.

Was zählt, ist Pragmatismus: Mehr Radwege und Wohnheimplätze, besseres Mensa-Essen und ein größeres Sportangebot - das bewegt die Massen weit heftiger als eine noch so erbitterte Diskussion ums allgemeinpolitische Mandat der Allgemeinen Studentenausschüsse (AStA). Als an der Uni Karlsruhe im vergangenen Wintersemester parallel zur Wahl zum Studentenparlament über ein verbilligtes Studenten-Ticket abgestimmt wurde, eilten gleich 35 Prozent zu den Urnen - statt der sonst üblichen 25 Prozent.

An den Bedürfnissen der Studenten orientierte Gruppen stellen folglich vielerorts die meisten Vertreter in dem von den Studentenparlamenten gewählten AStA. Oft sind von der Bonner Mutterpartei völlig losgelöste grüne und alternative Gruppierungen dabei.

Die stärkste Zustimmung aber finden Fachschaftsbündnisse, die im weitesten Sinne - und nach eigener Definition - linke Positionen umfassen.

In Düsseldorf etwa haben "Die Fachschaften" die absolute Mehrheit - "parteiunabhängig links" charakterisiert AStA-Vorsitzende Simone Kroschel die Richtung. Daß die Vertreter der Fachschaften aus allen Studienrichtungen stärkste Gruppe in der früheren Juso-Hochburg geworden sind, sei ein Zeichen dafür, daß heute "Studi-Politik statt Parteikarriere" gefragt sei.

"Und Spaß muß es machen", wünscht sich die Hamburger Musikwissenschafts- und Spanisch-Studentin Katharina Dufner, 23. Sie hat ihr Vergnügen gehabt, als sie im vergangenen Wintersemester auf der "Liste St. Pauli" für das Studentenparlament kandidierte. Einzig ein Bild des Fußballklubs FC St. Pauli und der Tabellenstand der Bundesliga vom 13. August 1995, als die Kicker vom Kiez nach dem ersten Spieltag überraschend Spitzenreiter geworden waren, warben für die schräge Truppe.

Das langte für 2 der 47 Sitze im Studentenparlament. "Viele waren überrascht, als wir dann doch alles etwas ernster nahmen", sagt Katharina Dufner, "die meisten finden das jetzt aber richtig."

Die Zahl der St.-Pauli-Fans stieg sogar noch, nachdem die "postmoderne Randerscheinung" (linker Uni-Spott) ein Tischfußballspiel angeschafft und programmatische Eckpunkte beschlossen hatte: "Wir sind ökologisch, feministisch und für den FC St. Pauli, wir sind gegen rechts, die Jusos und den HSV."

Mit Unterstützung der Grünen Hochschulgruppe, der bei weitem stärksten Fraktion im Parlament, wurde Katharina Dufner ("Rückennummer 7") schließlich sogar zu einer der drei AStA-Sprecherinnen gewählt.

Und so werden jetzt nicht nur Sammelkarten für St.-Pauli-Spiele und Partys organisiert, sondern auch Protestaktionen gegen Sparmaßnahmen und Studiengebühren. "Wir wollen eine angenehme Atmosphäre schaffen", sagt Dufner, "zuviel theoretischer Krams vergrault die Leute doch nur."

Ihre rein klamaukorientierten Kollegen von den Roten Khmer hat sie schon lange nicht mehr gesehen. Einmal kamen die beiden Abgeordneten noch mit Wasserpistolen bewaffnet vorbei und erschossen symbolisch das Studentenparlament.

Da waren sie schon längst wegen dreimaligen unentschuldigten Fehlens rausgeschmissen worden.

Quelle: SPIEGEL special 11/96, 01.11.1996, S. 80